Navigation überspringen

Auch ein Antrag kann Kenntnis vermitteln

Datum: 22.10.2024

Kurzbeschreibung: 

Sozialhilfe soll in Notlagen helfen, etwa, wenn Kosten für ein Pflegeheim nicht aus eigenen Mitteln gedeckt werden können. Ab welchem Zeitpunkt aber ein Anspruch besteht, ist immer wieder streitig.

Urteil vom 19. September 2024, Aktenzeichen L 7 SO 2479/23

Auch ein Antrag kann Kenntnis vermitteln

Für Menschen, die ihren Lebensbedarf nicht mit eigenen Mitteln decken können und die auch keinen ausreichenden Anspruch auf andere, vorrangige staatliche Leistungen haben, soll die Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB XII) die Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums sicherstellen. Um einen einfachen Zugang zu gewährleisten, sind die meisten der Leistungen nach dem SGB XII nicht von einem Antrag abhängig. Es genügt vielmehr, dass die zuständige Behörde davon Kenntnis erlangt, dass ein möglicher Leistungsberechtigter seinen Bedarf nicht selbst decken kann. Dies ist der sogenannte Kenntnisgrundsatz. Was genau die Behörde für eine solche „Kenntnis“ wissen muss, ist jedoch nicht im Gesetz geregelt und in der Rechtsprechung umstritten. Dies ist vor allen Dingen deswegen wichtig, weil ein Anspruch auf Sozialhilfe grundsätzlich erst ab dem Zeitpunkt der Kenntnis besteht.

Mit dieser Problematik hat sich das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg in einer jetzt veröffentlichten Entscheidung auseinandergesetzt. Eine pflegebedürftige ältere Dame, die spätere Klägerin, kam in ein Pflegeheim in Albstadt-Ebingen, konnte aber die Heimkosten mit ihrer Rente nicht decken. Vermögen hatte sie nicht. Ihr Betreuer wandte sich am 17. Oktober 2019 an das Sozialamt des zuständigen Landkreises (den Beklagten), um „die Übernahme der ungedeckten Kosten […] zu beantragen“, wie ein Vermerk des Beklagten festhielt. Er legte verschiedene Unterlagen vor, aus denen sich unter anderem die Rentenhöhe, die Heimkosten und aufgelaufene Rückstände ergaben. Angaben zum Vermögen machte er nicht. Der Beklagte bat den Betreuer schriftlich am 21. Oktober 2019 um weitere Unterlagen und wies darauf hin, dass Leistungen der Hilfe zur Pflege erst ab dem Bekanntwerden der Notlage gewährt werden könnten, „(d.h. frühestens ab dem 17.10.2019).“ Eine Reaktion des Betreuers erfolgte nicht und auch der Beklagte unternahm nichts Weiteres, auch nicht auf eine Nachfrage des Pflegeheims im Juni 2020. Erst nachdem eine neue Betreuerin am 7. Dezember 2020 bei dem Beklagten nochmals Leistungen geltend machte, gewährte der Beklagte Hilfe zur Pflege. Für die vorangegangene Zeit lehnte der Beklagte Leistungen mit Bescheid vom 23. September 2020 ab. Die Leistungen könnten erst ab dem 7. Dezember 2020 erbracht werden, da erst seitdem positive Kenntnis von den anspruchsbegründenden Tatsachen bestehe. Insbesondere zum Vermögen hätten zuvor keine Nachweise vorgelegen.

Nachdem das Sozialgericht Reutlingen in erster Instanz bereits eine Leistungspflicht ab Juni 2020 gesehen hatte, hat das LSG Baden-Württemberg den Beklagten im Berufungsverfahren zur Übernahme der ungedeckten Heimkosten ab dem 17. Oktober 2019 verurteilt. Der entscheidende Senat hat zunächst festgehalten, dass der Beklagte – neben einer internen Verfügung – in dem Schreiben vom 21. Oktober 2019 eine Kenntniserlangung für den 17. Oktober 2019 bestätigt habe und diesbezüglich beim Wort zu nehmen sei. Der Beklagte könne insoweit nicht mit der im Verfahren getätigten Behauptung überzeugen, er habe die Notlage noch nicht einmal erahnen können. Dies könne jedoch im Ergebnis sogar dahinstehen. Denn die Kenntnis vom Bedarfsfall solle einen niederschwelligen Zugang zur Sozialhilfe gewährleisten. Das schließe aber die Möglichkeit einer Antragstellung keineswegs aus. In der Vorsprache des Betreuers am 17. Oktober 2019 sei eine solche – formlos mögliche – Antragstellung zu sehen. Dies sei von dem Beklagten auch erkannt und entsprechend in dem diesbezüglichen Vermerk notiert worden. Werde ein formloser Antrag auf Sozialhilfeleistungen gestellt, der die Behörde ohne weitere Angaben des Antragstellers noch nicht in die Lage versetze, die Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen, seien – soweit die Voraussetzungen im Weiteren erwiesen würden – Leistungen dennoch ab Antragstellung zu zahlen. Leistungsberechtigte von antragsgebundenen Leistungen würden sonst gegen den Willen des Gesetzgebers bevorzugt. Es wäre widersinnig, wenn antragsgebundene Leistungen auch bei einem unvollständigen Antrag bereits ab Antragstellung gewährt würden, während die Sozialhilfe im Übrigen trotz gleicher Ausgangslage erst später einsetzen würde.



Hinweis zur Rechtslage:

§ 18 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) 

 

(1) Die Sozialhilfe, mit Ausnahme der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, setzt ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe oder den von ihm beauftragten Stellen bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen.

 

(2) Wird einem nicht zuständigen Träger der Sozialhilfe oder einer nicht zuständigen Gemeinde im Einzelfall bekannt, dass Sozialhilfe beansprucht wird, so sind die darüber bekannten Umstände dem zuständigen Träger der Sozialhilfe oder der von ihm beauftragten Stelle unverzüglich mitzuteilen und vorhandene Unterlagen zu übersenden. 2Ergeben sich daraus die Voraussetzungen für die Leistung, setzt die Sozialhilfe zu dem nach Satz 1 maßgebenden Zeitpunkt ein.

 

Diese Website verwendet Cookies. Weitere Informationen erhalten Sie unter Datenschutz.